Von der Aufsummierung der Möglichkeiten

  • Dynamische Prozesse mit #Zufallsfaktoren tendieren oft zur Mitte, was als »#Regression zur #Mitte« bezeichnet wird. Wenn die Entwicklungsmöglichkeiten eingeschränkt werden, kann dies zu scheinbaren Trends und Missverständnissen führen, wie bei der #Evolution oder in gesellschaftlichen #Diskursen.

Gütersloh, 10. November 2024

In dynamischen Prozessen, in denen es einen Zufallsfaktor gibt, summieren sich die Möglichkeiten und pendeln sich über die Zeit auf einen Mittelwert ein. Ein Phänomen das als Regression (oder Progression) zur Mitte bekannt ist. Werden die Möglichkeiten gekappt – etwa durch eine Linke und/oder Rechte Wand, führt das zu einer überraschenden Dynamik, die oft missinterpretiert wird, wie beispielsweise bei der Evolution. Augenscheinlich wohnt der Evolution, die seit rund 3,5 Milliarden Jahren stattfindet und weiterläuft, eine Tendenz zur Komplexität inne. Das ist allerdings lediglich ein Scheineffekt. In Wahrheit hat sie keine solche Tendenz, der Anschein wird durch die Aufsummierung der Möglichkeiten in Verbindung mit der Linken Wand erweckt. Die Linke Wand ist in diesem Fall die Minimalkomplexität, sprich: ein einzelliger Organismus. Die Rechte Wand ist sehr weit entfernt und stellt sich durch tatsächliche Grenzen dar – etwa die maximale Größe von Lebewesen (ein Blauwal wäre an Land nicht lebensfähig, er würde durch sein eigenes Gewicht erdrückt).

Der betrunkene #Spaziergänger

Ein #Betrunkener, der auf einem #Bürgersteig nach Hause wankt, landet über kurz oder lang im Rinnstein. Die Linke Wand ist in diesem Prozess die Häuserwand, eine Rechte Wand spielt hier keine Rolle. Bei jedem Schritt gibt es drei zufällige Möglichkeiten: Entweder wankt er nach links, nach rechts oder geradeaus. Statistisch gleicht sich sein Wanken aus, sodass er auf dem Bürgersteig bleibt. Durch die Häuserwand wird nun der Ausgleich nach links gekappt und die Mittelung verlagert sich immer weiter nach rechts, bis er schließlich im Rinnstein landet. Das passiert freilich nur, wenn der Heimweg so weit ist, dass sich das Phänomen auch in der Praxis auswirken kann.

Die Evolution

Das Leben auf der Erde evoluiert seit unvorstellbaren 3,5 Milliarden Jahren und begann mit einzelligen Organismen, die bis heute die überwältigende Mehrheit repräsentieren. Sie stellen die allergrößte Biomasse dar, verfügen über die allermeisten Arten, und sie existieren von Beginn an. Da es weniger komplex als eine einzelne Zelle nicht geht, wird ihre Dynamik durch zufällige Genmutationen nach links, also in Richtung abnehmender Komplexität, gekappt, sodass die Aufsummierung der Möglichkeiten zu zunehmender Komplexität führt. Die Rechte Wand kappt die Aufsummierung bis zu einer maximalen Komplexität, sodass sich letztlich der Mensch als wohl komplexestes Lebewesen entwickelt hat. Es spricht wenig dafür, dass das Leben noch komplexer werden wird. Und wenn doch, werden wir das in absehbarer Zeit nicht wahrnehmen können, da diese Entwicklung in erdgeschichtlichen Zeiträumen über Milliarden von Jahren hinweg verläuft. Die rund 100.000 Jahre in denen der Mensch existiert, sind bestenfalls ein Wimpernschlag in der Erdgeschichte. Die letzten Sekundenbruchteile eines langen Jahres. Insofern sollten wir uns nicht allzu wichtig nehmen. So bezeichnen manche Wissenschaftler den Menschen als sprechenden #Affen mit #Drama. Michael ­Schmidt-Salomon nennt uns »Trockennasenaffen mit Sprache«.

Weitere Kappungseffekte

Die Kappung kann man ebenso als Einschränkung der Freiheit bezeichnen. So lässt sich das Prinzip beispielsweise auch auf die Öffentliche Meinung oder den Öffentlichen Diskurs anwenden, wobei hier die Attribute »links« und »rechts« nicht politisch zu verstehen sind, sondern lediglich als statistische Begriffe. Jedenfalls sollte man die Begriffe nicht vermischen. Kappt man nun im Diskurs die Dynamik, die Aufsummierung der Möglichkeiten, an einer Seite (etwa an der politisch (!) rechten Seite), dann entwickelt sich der Diskurs nach links. Umgekehrt gilt freilich dasselbe. Jede Kappung einer Seite führt also zu einer Scheintendenz in Richtung der entgegengesetzten Seite. Solange, bis eine Mittelung zwischen den beiden »Wänden« erreicht ist. Wann diese »Regression oder Progression zur Mitte« erreicht ist, lässt sich in den meisten Fällen nur schwer sagen. In Totalitarismen spielt unter Umständen der Zufall eine immer geringere Rolle, sodass ein Diskurs an einer Maximalposition enden kann. Durch »Nudging« wird in den erratischen Prozess solange eingegriffen, bis man den Zufall herausnehmen kann und etwa durch Zwang ersetzen kann, wie es beispielsweise die Nationalsozialisten Anfang der 20. Jahrhunderts getan haben.

Die gekappte #Pizza

Der Kappungseffekt und die Aufsummierung der Möglichkeiten findet auch bei den beliebten, italienischen Teigfladen statt. Die »Linke Wand« ist hier ein Teigfladen, der nur mit Tomatensauce und Käse belegt ist. Bis also die »Rechte Wand« des maximal erträglichen Belags erreicht ist, gibt es eine Scheintendenz zu immer mehr und immer komplexeren Belägen. Bis die Pizza nicht mehr als Pizza erkennbar ist. Vom Pizzaklassiker, der »Margherita« ging es über die Jahrhunderte und Jahrzehnte hinweg zu komplexen Kreationen, wie sie bei den Pizzaweltmeisterschaften serviert werden, die aber teils überkomplex und nicht praxistauglich sind. Die Komplexität stellt sich bei der Pizza freilich nicht nur in der Zahl der Zutaten dar, sondern auch in der Merkwürdigkeit der Zutaten. Was beispielsweise zu Kreationen führt, die Italiener auf die Palme bringen: #Schokopizza, Pizza mit #Bananen, Pizza mit Kiwischeiben, Pizza #Hawaii, Pizza #Pommes, Pizza Pasta et cetera. Hier gibt es also auf dieser Betrachtungsebene eine Tendenz zur Absurdität, die Gott sei Dank durch die »Rechte Wand« der völligen Absurdität begrenzt wird. Das könnte etwa eine Gummibärchenpizza sein oder eine Pizza #Gänsebraten, eine Pizza #Frankfurter #Kranz oder eine Pizza #Gulasch, womöglich sogar ostwestfälische Varianten wie eine Pizza Potthast oder eine Pizza Blindhuhn. Aber wer weiß, was uns hier noch erwartet. Die meistgebackene und meistgegessene Pizza ist und bleibt derweil – jedenfalls in Italien – die klassische »Margherita«, die relativ wenig komplex ist.

Stephen Jay Gould

Formuliert hat das Phänomen wohl erstmals Stephen Jay #Gould (1941 bis 2002), ein US-amerikanischer Paläontologe, Evolutionsbiologe und Professor in Harvard. Er wurde für seine populärwissenschaftlichen Schriften bekannt und vertrat makroevolutionäre Konzepte, insbesondere die Theorie des »unterbrochenen Gleichgewichts« (»Punctuated #Equilibrium«), die er mit Niles Eldredge entwickelte. Gould argumentierte, dass Evolution nicht immer graduell verläuft, sondern durch Phasen schneller Veränderung und Stasis geprägt ist. Er kritisierte den traditionellen Intelligenzbegriff und die #Ãœberbetonung der natürlichen #Selektion.